Sekunden entscheiden über Sucht: Wie Live-Wetten zum Turbo-Risiko werden

  • 24 % der Menschen haben in Deutschland in den letzten 12 Monaten Sportwetten platziert.
  • Dabei sind neben traditionellen Wetten auch Live-Wetten sehr beliebt.
  • In diesem Artikel beleuchten wir die Gefahren von Live-Wetten.
  • Dazu haben wir verschiedene Expertenmeinungen sowie Erfahrungsberichte zusammengestellt.
Ein Mann, der traurig auf sein Smartphone schaut und sich die Haare nach einer verlorenen Wette rauft.

Live-Wetten bieten ein hohes Suchtpotenzial und oftmals den Einstieg in einen Teufelskreis. ©OnlineCasinosDeutschland.com/ChatGPT

Was sind Live-Wetten?

Live-Wetten ermöglichen es Spielern, während eines laufenden Sportereignisses Wetten zu platzieren. Anders als die traditionelle Wette werden sie also nicht vor dem Anpfiff platziert, sondern danach.

Dabei ändern sich die Quoten in Echtzeit. Spieler haben somit jederzeit die Möglichkeit, ihre Wette anzupassen und auf das Spielgeschehen zu reagieren. Um den Unterschied zur Pre-Match-Wette zu verdeutlichen, haben wir eine Tabelle angefertigt:

Tabelle mit den Unterschieden von Live-Wetten und Pre-Match-Wetten.

Die Unterschiede zwischen Live-Wetten und Pre-Match-Wetten sind deutlich. ©OnlineCasinosDeutschland.com/Office

Live-Wetten zeichnen sich durch ihre besondere Dynamik aus. Die Quoten werden in Echtzeit angepasst und Spieler reagieren direkt auf die Spielergebnisse. Wettende müssen somit schnelle Entscheidungen treffen.

Daraus ergeben sich sowohl Risiken als auch Chancen. In diesem Artikel möchten wir beide Perspektiven beleuchten und die zentrale Frage beantworten, ob strengere Regelungen für Live-Wetten notwendig sind.

Zahlen & Fakten: Wie beliebt sind Live-Wetten wirklich?

Es gibt bisher nur wenige Studien rund um das Thema Live-Wetten. Im Januar 2025 hat Optimove Insights [Link auf Englisch] die Ergebnisse einer großangelegten Studie zum Thema Live-Wetten und ihren Auswirkungen veröffentlicht.

Die Forscher haben die Daten von mehr als 3,7 Mio. Wetten aus den USA, Großbritannien, Griechenland, Italien und Spanien ausgewertet. 54 % der analysierten Wetten seien Live-Wetten gewesen. In Griechenland sollen es sogar 70 % gewesen:

Diagramm zur prozentualen Verteilung von Live-Wetten vs. Pre-Match-Wetten.

In 4 der 5 Länder wurden mehr Live-Weten als klassische Wetten abgegeben. ©OnlineCasinosDeutschland.com/Office

Die Studie habe zudem gezeigt, dass der durchschnittliche monatliche Wettbetrag bei Live-Wetten (ca. 1.355 EUR) deutlich höher gewesen sei als bei Pre-Match-Wetten (ca. 724 EUR).

Die psychologischen Mechanismen hinter Live-Wetten

Um die Gefahren von Live-Wetten zu verstehen, kann ein Blick auf die psychologischen Mechanismen dahinter helfen. Denn anders als klassische Wetten zeichnen sich Live-Wetten durch ihre Dynamik, die sofortigen Belohnungen und einen hohen emotionalen Druck aus:

  • Schnelle Entscheidungen: Spieler sind bei Live-Wetten dazu geneigt, impulsiv zu wetten. Die Quoten ändern sich ständig und das Spiel läuft weiter – dadurch ist schnelles Handeln ohne langes Nachdenken über die Konsequenzen erforderlich.
  • Sofortige Belohnung: Live-Wetten sind mit einem sofortigen Feedback verbunden. Wettende erhalten somit unmittelbare Belohnungen oder Verluste. Dieser schnelle Zyklus gilt als besonders gefährlich.
  • Fear of missing out: Bei Live-Wetten müssen Spieler durchgehend befürchten, eine gewinnbringende Gelegenheit zu verpassen. Zögern und Abwarten können eine gute Wettmöglichkeit verstreichen lassen. Dadurch entsteht enormer Druck, weiter zu wetten.
  • Ständiger Stress: Während ein Spiel läuft, stehen Wettende unter dauerhaftem Druck. Die Quoten verändern sich minütlich, es müssen kontinuierlich Entscheidungen getroffen werden und das Spiel läuft immer weiter. Dies erzeugt einen emotionalen Druckzustand aus Spannung und Aufregung.
  • Dauerhafte Verfügbarkeit: Live-Wetten sind heutzutage immer und überall verfügbar. Spieler haben dadurch eine dauerhafte Versuchung, wieder zu wetten. Sie können nie wirklich abschalten, da die Wetten stets verfügbar sind.

Die oben genannten Aspekte führen dazu, dass Live-Wetten mit einer besonders hohen Suchtgefahr verbunden sind. Diese ergeben sich aus den ständigen Belohnungen und ihrer dynamischen Natur. Spieler stehen unter enormem Druck, keine Wettmöglichkeit zu verpassen, und wetten immer weiter.

Durch die ständige Verfügbarkeit lässt der nächste Dopamin-Kick nicht lange auf sich warten.

Erfahrungsberichte von Spielern

Um ein besseres Bild von Live-Wetten in der Praxis zu erhalten, haben wir uns mit einigen Spielern in Verbindung gesetzt, die regelmäßig Live-Wetten platzieren. Wir haben ihnen verschiedene Fragen zu Live-Wetten und ihren besonderen Merkmalen gestellt.

Um unsere Quellen zu schützen, geben wir die Antworten anonym wieder.

Vier Freunde schauen zusammen Fußball und schauen jubelnd auf ihre Smartphones.

Wieso sind Live-Wetten bei Wettenden so beliebt? Wir haben nachgefragt! ©OnlineCasinosDeutschland.com/ChatGPT

“Live-Wetten können schnelle Instinkte und scharfsinnige Analysen belohnen”

Was magst du an Live-Wetten?

Unter bestimmten Umständen kannst du im Vergleich zu den Quoten vor dem Spiel deutlich höhere Quoten erhalten.

Auf welche Sportarten platzierst du Live-Wetten?

Sehr selten auf Fußball … Meiner Erfahrung nach ist die NBA die beste Gelegenheit für Live-Wetten. Die hohe Punktzahl macht es für den Algorithmus der Buchmacher schwieriger, das Endergebnis live genau vorherzusagen. Mit Erfahrung und Wissen kann man sich dies zunutze machen. NFL-Spieler-Props können ebenfalls gut sein.

Wie viel Geld wettest du pro Jahr? Wie viel davon auf Live-Wetten?

Das hängt von der Situation und dem Potenzial der Wette ab. Normalerweise ist es dasselbe, aber es kann auch höher ausfallen, wenn ich glaube, eine besonders gute Quote gefunden zu haben.

Haben Live-Wetten für dich ein höheres Verlustrisiko?

Sie haben dasselbe Risiko.

Hast du schon mal große Verluste mit Live-Wetten verbucht?

Ich habe Live-Wetten verloren, aber das liegt in der Natur des Spiels. Niemand gewinnt jedes Mal, aber wenn du hochwertige Wetten abschließt und weißt, wie du dein Kapital verwaltest, wirst du langfristig Geld verdienen.

Wie fühlst du dich beim Platzieren von Live-Wetten? Gestresst? Fokussiert? Aufgeregt?

Für mich ist das nicht anders als normales Wetten. Ich lasse mich nicht von Emotionen leiten, da dies zu falschen Entscheidungen führen kann, obwohl es befriedigend ist, wenn man mit seinem Wissen und seiner Erfahrung Geld verdient.

Gibst du deine Live-Wetten impulsiv ab oder analysiert du das Spiel erst?

Ich wette niemals impulsiv.

Wenn du jemandem, der noch nie gewettet hat, einen Satz über Live-Wetten sagen könntest, wie würde dieser lauten?

Live-Wetten können schnelle Instinkte und scharfsinnige Analysen belohnen, aber Vorsicht … sie sind schnelllebig und können sich genauso schnell gegen dich wenden.

“Live-Wetten sind stressiger”

Was magst du an Live-Wetten?

Live-Wetten sind stressiger, da man während des Spiels den potenziellen „Wert“ berechnen muss, was nicht so einfach ist. Der Vorteil ist, dass man bestimmte Fehler, die man im selben Spiel gemacht hat, ausgleichen kann, aber dafür braucht man ein gutes Kapital.

Auf welche Sportarten platzierst du Live-Wetten?

Ich persönliche platziere nur Live-Wetten auf Fußball.

Wie viel Geld wettest du pro Jahr? Wie viel davon auf Live-Wetten?

Ich platziere jährlich rund 75.000 GBP (ca. 87.156 EUR), davon aber nur 25.000 GBP (ca. 29.052 EUR) auf Live-Wetten.

Haben Live-Wetten für dich ein höheres Verlustrisiko?

Live-Wetten haben dieselben Quoten wie Wetten vor dem Spiel. Bei einer Quote von +100 beträgt die Gewinnchance genau 50 % (ohne Berücksichtigung der Marge des Buchmachers).

Hast du schon mal große Verluste mit Live-Wetten verbucht?

Ich persönlich bin besser in Pre-Match-Wetten als bei Live-Wetten. Sagen wir mal so: Bei Live-Wetten verliere ich zwar kein Geld, aber ich gewinne auch nichts.

Expertenmeinungen zu den Risiken von Live-Wetten

Die Gefahren von Live-Wetten sind tief in der menschlichen Psychologie verwurzelt. Um die genauen Hintergründe besser zu verstehen, haben wir zwei Experten befragt, die sich mit den psychologischen Mechanismen hinter Live-Wetten intensiv auseinandersetzen.

Interview mit Glücksspielforscher Dr. Tobias Hayer

Dr. Tobias Hayer ist einer der angesehensten Glücksspielforscher in Deutschland. Er ist Diplom-Psychologe und leitet seit dem Jahr 2021 die Arbeitseinheit Glücksspielforschung an der Universität Bremen. Diese Arbeitseinheit widmet sich den Entstehungsbedingungen und den Folgen des problematischen Glücksspielverhaltens sowie der Prävention.

Für unseren Artikel zum Thema Live-Wetten hat Dr. Hayer uns einige Fragen beantwortet und liefert uns Einblicke in die psychologischen Mechanismen dahinter.

Prellwitz: Warum genau sind Live-Wetten psychologisch gefährlicher als klassische Wetten?

Dr. Hayer: Die Bestimmung des Gefährdungspotenzials einzelner Glücksspielformen kann durch eine differenzierte Analyse ihrer Veranstaltungsmerkmale erfolgen. Als Daumenregel lässt sich festhalten: Trifft eine hohe Verfügbarkeit auf eine schnelle Spielgeschwindigkeit, ist von ausgeprägten Suchtgefahren auszugehen.

Live-Wetten erfüllen diese beiden Kriterien: Zum einen können Live-Wetten jederzeit mit einem mobilen Endgerät platziert werden. Entsprechende Angebote auf diverse Sportarten finden sich rund um die Uhr im Internet. Zum anderen garantieren Live-Wetten Entscheidungen im Minutentakt, verbunden mit den entsprechenden Emotionen: Gewinne können sofort wieder reinvestiert, Verluste durch unmittelbares Weiterspielen kompensiert werden.

Damit hat das „Game Design“ einer Live-Wette kaum noch Gemeinsamkeiten mit den relativ harmlosen klassischen Wettangeboten wie etwa Toto oder Oddset.

Prellwitz: Gibt es aktuelle Studien, die das erhöhte Suchtpotenzial von Live-Wetten gegenüber klassischen Wetten belegen?

Dr. Hayer: Im Rahmen einer Überblicksarbeit aus dem Jahr 2021 und einer Sichtung des damals aktuellen Forschungsstandes sind Dr. Jens Kalke* und ich zu der Schlussfolgerung gelangt, dass von Live-Wetten und Mikrowetten unter allen Sportwettangeboten die höchsten Suchtgefahren ausgehen.

Zudem nutzen Sportwettende mit einem problematischen Glücksspielverhalten vergleichsweise häufig mobile Endgeräte zur Spielteilnahme. Die nationalen bzw. internationalen wissenschaftlichen Befunde, die im Anschluss an unseren Review veröffentlicht wurden, haben diese Kenntnisse im Wesentlichen gestützt.

Aus Deutschland stammen dabei zwei interessante Evidenzstränge: Erstens verweisen Bevölkerungsumfragen auf einen relativ hohen Anteil von Personen mit einer Glücksspielproblematik unter den Live-Wettenden. Ungeklärt ist hier jedoch, ob die Teilnahme an Live-Wetten in kausaler Weise zur Glücksspielproblematik beigetragen hat oder ob vulnerable Personengruppen (z. B. Automatenspielende mit einer Glücksspielproblematik) sich auch von Live-Wetten angezogen fühlen.

Zweitens sehen wir im Bereich des Hilfesystems seit Jahren einen stetig steigenden Anteil von Sportwettenden unter den Personen mit einer Glücksspielproblematik. Live-Wetten dürften in diesem Zusammenhang von wesentlicher Bedeutung sein.

*Dr. Jens Kalke ist dipl. Politologe und arbeitet im Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg.

Prellwitz: Wie beeinflussen Emotionen im Spielverlauf (z. B. bei einem Tor) die Entscheidungsfähigkeit beim Wetten?

Dr. Hayer: Unabhängig von der spezifische Glücksspielform ist zunächst vorauszuschicken, dass die Teilnahme am Glücksspiel letztlich nichts anderes darstellt als den Kauf von Emotionen. Mit der Abgabe eines Wettscheins geht – wie bei allen anderen Glücksspielen auch – eine Befindlichkeitsveränderung in Richtung Nervenkitzel oder Stimulation einher.

Beim Sportwetten kommt als Besonderheit das Interesse für den Sport hinzu: So können die Emotionen, die beim Mitfiebern mit dem eigenen Lieblingsverein ohnehin schon vorhanden sind, mit möglichen Geldgewinnen noch potenziert werden. Gleichzeitig wirkt der Irrglaube, die eigenen Fachkenntnisse in Sachen Sport in einfacher und schneller Weise zu monetarisieren.

Sowohl kognitive Verzerrungen dieser Art als auch ein emotional-impulsives Verhalten gelten als risikoerhöhende Faktoren bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung eines problematischen Glücksspielverhaltens.

Prellwitz: Was beobachten Sie bei Betroffenen, die über Live-Wetten in die Sucht gerutscht sind – wie beginnt es typischerweise?

Dr. Hayer: Grundsätzlich sind Entwicklungsverläufe bei der Sportwettsucht sehr heterogen. Dennoch lassen sich typische Phasen benennen, die viele Betroffene durchlaufen.

Grundlage ist in der Regel die Begeisterung für den Sport, häufig wird zunächst ausschließlich oder überwiegend auf den Lieblingsverein oder die Lieblingssportart gewettet. Monetäre Gewinne können als Bestätigung des eigenen Fachwissens angesehen werden, was wiederum die Wahrscheinlichkeit weiterer Wettaktivitäten erhöht.

Mit einer schleichenden Intensivierung des Wettverhaltens rutschen die Betroffenen dann in eine Verlustzone. Spätestens bei dem immer wiederkehrenden Gedanken, verlorenes Geld durch erneute Spielteilnahmen wieder hereinholen zu wollen, zeichnet sich ein problematischer Umgang mit Sportwetten ab.

Im finalen Stadium spielt dann die Sportbegeisterung keine Rolle mehr – hier geht es nur noch darum, die suchtartig entgleisten Bedürfnisse möglichst zeitnah zu bedienen. Und hierzu bieten sich Live-Wetten aufgrund ihrer schnellen Taktfolge eben an.

Prellwitz: Viele Anbieter werben mit Einsatzlimits und Reality Checks. Aus suchtpräventiver Sicht: Reicht das aus?

Dr. Hayer: Im Allgemeinen fußt effektive Suchtprävention immer auf einem Bündel an Schutzmaßnahmen. Erste Forschungsbefunde zu Limitierungssystemen und Spielunterbrechungen deuten tatsächlich jeweils einen gewissen suchtpräventiven Mehrwert an.

Allerdings steht und fällt die Effektivität einer Maßnahme mit ihrer konkreten Ausgestaltung in der Praxis. Beispielweise werden Limits von Spielenden relativ selten freiwillig in Anspruch genommen, was ihren Nutzen deutlich minimiert. Außerdem ist die Größe der Effekte, die von diesen beiden Instrumenten ausgeht, überschaubar.

Die Implementierung weiterer Maßnahmen, wie personalisiertes Feedback, die Umsetzung von Fremdsperren beim Vorliegen einer Glücksspielproblematik oder weitreichende Werberestriktionen, wären hier sicherlich ebenfalls zielführend.

Prellwitz: Müsste es Ihrer Meinung nach strengere Regularien oder sogar ein komplettes Verbot von Live-Wetten geben?

Dr. Hayer: Auf jeden Fall rechtfertigen die vorliegenden Forschungsbefunde in Bezug auf die mit Live-Wetten assoziierten Suchtgefahren eine strenge Regulation dieses Spielangebots. Im Sinne des Spielerschutzes und der Suchtprävention plädiere ich für eine Beschränkung der Erlaubnisse auf Live-Wetten, die sich auf das Endergebnis laufender Sportereignisse beziehen. Dies würde nicht nur potenziellen Risiken entgegenwirken, sondern aufgrund der eindeutigen Vorgabe auch den Vollzug erleichtern.

Wichtig wäre darüber hinaus, die in Deutschland seit Juli 2021 über das Verhalten der Spielenden gesammelten Daten (z. B. von Seiten der Anbieter und der Aufsichtsbehörde) der unabhängigen Forschung vollständig und in Rohform zur Verfügung zu stellen, um weiterführende Erkenntnisse für eine evidenzgestützte Fortschreibung des Glücksspielstaatsvertrages zu erhalten.

Interview mit Frau Dr. med. Sarah Roß – Leitende Oberärztin der MEDIAN Kliniken

Die MEDIAN Kliniken sind der größte Anbieter von Rehabilitationskliniken in Deutschland. Dort werden unter anderem auch Menschen mit einer Glücksspielsucht behandelt.

Frau Dr. med. Sarah Roß ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und leitende Oberärztin der MEDIAN Kliniken. Sie arbeitet tagtäglich mit Suchtkranken und berichtet uns aus der Praxis, worin Ihrer Meinung nach das hohe Suchtpotenzial von Live-Wetten begründet ist.

Prellwitz: Sind Live-Wetten in Ihrer täglichen Arbeit ein wichtiges Thema? Begegnet es ihnen häufig?

Dr. Roß: Ja, in unserer täglichen Arbeit sind Live-Wetten ein relevantes Thema. Eine besonders gefährdete Gruppe sind jüngere männliche, meist technik- und sportaffine Menschen.

Diese weisen oft in ihrer Primärpersönlichkeit schon Merkmale wie hohe Impulsivität oder einen riskanteren Umgang mit Geld auf oder streben bestimmte Leistungsideale an, auf deren Boden sich dann die Glücksspielabhängigkeit entwickelt.

Oft bestehen auch begleitende psychische Erkrankungen wie Depression, ADHS oder Substanzmissbrauch; diese Menschen haben ein höheres Risiko für Kontrollverlust und Suchtdynamik.

Prellwitz: Worin begründet sich Ihrer Erfahrung nach das hohe Suchtpotenzial von Live-Wetten?

Dr. Roß: Live-Wetten bieten eine kontinuierliche Abfolge von Einsatzmöglichkeiten während eines laufenden Spiels. Das unterscheidet sie von klassischen Sportwetten, bei welchen Stunden bis Tage vor Spielbeginn ein einmaliger Wetteinsatz getätigt wird.

Bei Live-Wetten kann auf unterschiedliche Ereignisse während eines einzigen Spiels gewettet werden, so z. B. beim Fußball, wer das nächste Tor schießt, die nächste gelbe oder rote Karte bekommt, ausgewechselt wird usw. Durch die permanente Verfügbarkeit via Smartphone kann quasi aus dem Stadion oder am Fernseher sitzend der Wetteinsatz platziert werden. Sie haben also eine hohe Ereignisdichte, die impulsives Verhalten verstärkt.

Außerdem bekommen die Spielenden ein Gefühl von Kontrolle und Einfluss, weil sie durch Beobachtung des Spiels sozusagen gefühlt „informierter“ wetten. Darüber hinaus entfällt der sogenannte Belohnungsaufschub, die Ergebnisse stehen sehr schnell fest, dies gibt eine sofortige Rückmeldung, was das Belohnungssystem stark aktiviert. Es bleibt kaum Zeit, das eigene Verhalten zu hinterfragen. Es fehlt also die Reflexionszeit, was wiederum ein erhöhtes Risiko für Kontrollverlust bedeutet.

Durch schnelle Folgewetten bei Verlusten, das sogenannte „Chasing“, versuchen viele Spielende, die Verluste auch direkt „wettzumachen“, was wiederum den Teufelskreis befördert. Wie beim klassischen Spielautomaten kommt es zu unregelmäßigen Gewinnen, was das Belohnungssystem besonders anspricht. Wir sprechen hier in der Psychologie von einer sogenannten intermittierenden Verstärkung.

Dieses Prinzip ist besonders suchtfördernd und sorgt für anhaltendes Spielen trotz Verlusten. Die Abfolge von Einsatz und Ergebnis erfolgt in so kurzer Zeit, dass das dopaminerge Belohnungssystem im Gehirn besonders stark stimuliert wird. Das sind ähnliche Vorgänge wie bei den klassischen Substanzabhängigkeiten wie Nikotin, Alkohol oder Drogen. Je jünger ein Mensch ist, wenn diese Mechanismen erstmalig ablaufen, desto wahrscheinlicher ist die Entwicklung einer Abhängigkeit.

Wir sehen eine Abhängigkeit von Live-Wetten-basiertem Glücksspiel häufig bei jungen Männern, oft bei solchen, die selbst sportlich sind und sich vermeintlich auskennen – etwa auf dem Fußballsektor, was dann suggeriert, man könne die Ergebnisse durch Wissen und Fachkenntnis antizipieren.

Es gibt ja auch immer mal wieder Gewinne zwischendurch, nur im Querschnitt betrachtet ist und bleibt es ein Verlustgeschäft, häufig verbunden mit einer Verschuldung, zum Teil auch mit Straffälligkeit.

Prellwitz: Wieso ist das Risiko für eine Glücksspielsucht in der heutigen Zeit besonders hoch? Ist es die ständige Verfügbarkeit online? Oder die Ablenkung vom Alltag?

Dr. Roß: Ein entscheidender Faktor ist die ständige Verfügbarkeit. Online-Glücksspielangebote, insbesondere die Live-Wetten, sind rund um die Uhr über Smartphone oder Computer erreichbar.

Entsprechende Apps sind benutzerfreundlich gestaltet, mit Live-Animationen und Werbung gespickt, die die Werte der Zielgruppe direkt ansprechen (wie zum Beispiel Wettkampf und Siegeswille, das Gefühl, Teil des sportlichen Geschehens zu sein und selbst Einfluss auf den Ausgang zu haben, Risikobereitschaft, Kontrolle und Erfolg als attraktive Eigenschaften, Versprechen von Nervenkitzel und unmittelbarem Feedback, Versprechen von Gemeinschaft und Zugehörigkeit, „unter Freunden“ zu sein oder ein Sportereignis gemeinsam zu erleben usw.). Push-Nachrichten, Wettboni und Echtzeit-Quoten tun ihr Übriges.

Spieler müssen nicht mehr auf ein bestimmtes Ereignis warten oder einen Ort wie das Wettbüro oder eine Spielothek aufsuchen – der Einstieg ist jederzeit und überall möglich. Diese ständige Präsenz des Angebotes erhöht die Wahrscheinlichkeit, impulsiv zu spielen, und erschwert Abstinenzphasen erheblich.

Als Ablenkung vom Alltag, wie es etwa ein Hobby oder eine angenehme Tätigkeit sein kann, sind Glücksspiele weniger zu sehen, eher im Sinne einer Strategie, schwierige emotionale Zustände zu regulieren, wie etwa negative Gefühle, Einsamkeit, Stress oder auch Langeweile auszublenden.

Glücksspiel wirkt auf viele wie eine Art Pause oder Auszeit für den Kopf. Probleme werden so für eine kurze Zeit oder den Moment des Spiels ausgeblendet. Sie sind jedoch mitnichten weg, sondern es kommen mit zunehmender Dauer der Abhängigkeit sogar noch sehr viel mehr Probleme hinzu, wie etwa finanzielle Folgen/Verschuldung, zum Teil mit strafrechtlichen Konsequenzen.

Konflikte mit nahestehenden Personen, vor denen das Glücksspiel häufig sehr lange verheimlicht wird, Vertrauensverlust in sozialen Beziehungen, Verlust des Arbeitsplatzes, Verlust sozialer Kontakte und soziale Isolation sind nur einige Beispiele. Medizinisch-therapeutisch betrachtet entsteht ein komplexes Zusammenspiel aus finanziellen, sozialen und psychischen Belastungen, das ohne professionelle Hilfe oft weiter eskaliert.

Prellwitz: Sind Ihrer Meinung nach stärkere Restriktionen in Bezug auf Live-Wetten und Glücksspiel nötig?

Dr. Roß: Auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen oder Reglementierungen habe ich als behandelnde Ärztin oder wir als Therapeuten in der Klinik nur wenig Einfluss. Die entsprechenden Reglementierungen sind Teil des sogenannten Glücksspielstaatsvertrages. Das ist die bundesweit geltende Rechtsgrundlage, die seit 2021 das Glücksspiel in Deutschland regelt.

Er legt unter anderem fest, welche Angebote erlaubt sind, wie Anbieter Konzessionen erhalten und welche Spieler-Schutzmaßnahmen verpflichtend sind. Hierzu gehört beispielsweise auch die Möglichkeit des Einrichtens einer Spielersperre, das ist eine Schutzmaßnahme, bei der eine Person sich vom legalen Glücksspiel ausschließen lassen kann. Gesperrte Personen dürfen dann an keinem staatlich konzessionierten Glücksspiel mehr teilnehmen, weder online noch vor Ort.

Was wir aus unserer Arbeit aber klar sagen können: Aufklärung ist ein entscheidender Faktor, um das Risiko zu senken – insbesondere bei jungen Menschen. Viele Betroffene berichten, dass sie die besonderen Suchtgefahren von Live-Sportwetten nicht kannten, als sie anfingen zu spielen.

Prävention sollte deshalb früh ansetzen, in Schulen, in der Jugendarbeit oder über soziale Medien, um die Mechanismen und Risiken verständlich zu machen. Restriktionen allein reichen vermutlich nicht – sie müssen durch wirksame Präventionsarbeit und leicht zugängliche Hilfsangebote ergänzt werden.

Abschließend möchte ich unabhängig von einer gestellten Frage sagen:

Glücksspielsucht – auch in der Form von Live-Wetten – ist behandelbar! Wer sich Hilfe sucht, kann zuversichtlich sein: Mit professioneller Unterstützung, geeigneten Therapieverfahren und einem stabilen sozialen Umfeld bestehen sehr gute Chancen, den Kreislauf der Abhängigkeit zu durchbrechen und wieder ein selbstbestimmtes, suchtfreies Leben zu führen. Der erste Schritt ist das Anerkennen des eigenen Problems und das aktive Aufsuchen von Hilfe.

Zwischenfazit: Die wichtigsten Erkenntnisse der Experten

  • Live-Wetten vereinen eine hohe Verfügbarkeit mit einer schnellen Spielgeschwindigkeit: Daraus entsteht eine ausgeprägte Suchtgefahr. Insbesondere der dauerhafte Zugang über Smartphones und benutzerfreundliche Apps erhöht das Risiko.
  • Das Platzieren von Live-Wetten führt zu starken Emotionen. Das Mitfiebern mit dem Lieblingsverein wird durch die Aussicht auf Geldgewinne zusätzlich verstärkt.
  • Eine kognitive Verzerrung bewirkt außerdem, dass Wettende sich für fachkundig halten. Sie beschäftigen sich seit Jahren mit dem Sport und halten sich für Experten. Deshalb nehmen sie an, schnelle Gewinne realisieren zu können. Sie erhalten ein Gefühl von Kontrolle und Einfluss.
  • Wettende hoffen, mögliche Verluste durch Live-Wetten besonders leicht ausgleichen zu können. Durch weiteres Wetten sollen die Verluste hereingeholt werden und ein gefährlicher Teufelskreis beginnt.
  • Die Experten sind sich einig, dass eine strenge Regulierung von Live-Wetten einen wichtigen Beitrag zur Suchtprävention leisten könnte.

Die Insider-Perspektive: Das sagt ein ehemaliger Buchmacher zur Gefahr von Live-Wetten

Neben Spielern und Experten wollen wir in diesem Artikel auch die andere Seite, die der Buchmacher, zu Wort kommen lassen. Einerseits sind Live-Wetten Teil ihres Geschäftsmodells, während sie andererseits mit Schutzmaßnahmen für Suchtprävention sorgen müssen.

Ein Buchmacher sitzt vor Bildschirmen mit einem Fußballspiel und verschiedenen Zahlen.

Wie schätzen Buchmacher das Risiko von Live-Wetten ein? ©OnlineCasinosDeutschland.com/ChatGPT

Wir haben dafür ein Interview mit einem ehemaligen Mitarbeiter eines Buchmachers geführt. Er hat über eine Zeitspanne von 5 Jahren für Buchmacher in Griechenland und den USA gearbeitet.

Um unsere Quellen zu schützen, geben wir die Antworten anonym wieder.

Wie wichtig sind Live-Wetten für Buchmacher im Vergleich zu klassischen Wetten?

Live-Wetten sind für Buchmacher viel einfacher, um präzise Quoten zu erstellen und mithilfe von Sportexperten/Computermodellen sicherzustellen, dass diese Quoten unter Kontrolle bleiben. Im Gegenzug ist es auch für Wettende profitabler, da sie die Leistung besser einschätzen können. Die Buchmacher haben einen Vorteil, da wir in der Regel Informationen vor der Fernsehübertragung erhalten. Um heutzutage als Buchmacher wettbewerbsfähig zu bleiben, muss man Live-Wetten anbieten.

Hast du Informationen darüber, wie Wettende während Live-Wetten agieren? Zum Beispiel nach einem Tor?

Wettende lassen sich oft von Live-Wettveranstaltungen beeinflussen, aber wahrscheinlich noch mehr von den Quoten, die während der Live-Wette angeboten werden. Viele Leute wetten direkt nach einem Tor auf eine verlierende Mannschaft, wenn es so aussieht, als hätte sie gerade Schwung, aber diese Wette wird nur auf eine von zwei Arten platziert. Der Wettende wettet entweder mit dem Herzen oder mit dem Kopf. Die Quoten können Wettende dazu bewegen, sich für eine dieser Methoden zu entscheiden.

Weißt du, ob Buchmacher Richtlinien für den Umgang mit Personen haben, die zu viel wetten?

Im Allgemeinen haben wir kein Problem damit, dass Menschen zu viel wetten. Wir möchten nicht, dass Menschen obdachlos werden oder ihr Leben verlieren, daher fördern wir verantwortungsbewusstes Spielen und haben Limits für die Nutzung der App eingerichtet. Die Grenzen können auch auf der Grundlage von Geldbewegungen eingehalten werden, sodass dies keine große Rolle spielt. Es ist vor allem dann von Bedeutung, wenn Spieler zu viel durch Werbeaktionen gewinnen. Aus diesem Grund haben wir Werbegrenzen und beschränken Werbeaktionen auf bestimmte Nutzer.

Haben Live-Wetten deiner Meinung nach ein höheres Risiko für problematisches Glücksspiel?

Ich glaube nicht, dass es für problematische Spieler ein höheres Risiko darstellt, ihr Geld zu verlieren. Ich denke, es ermutigt sie eher dazu, mehr zu wetten, da sie bei Live-Wetten mehr Zeit und Informationen zur Verfügung haben.

Hältst du die Art und Weise, wie Live-Wetten heute stattfinden, für fair gegenüber den Spielern? Hast du dich bei deiner Arbeit jemals unwohl gefühlt?

Ich denke, Live-Wetten sind für Spieler genauso fair wie Nicht-Live-Wetten. Ich verstehe, dass man nicht möchte, dass sein Lebensunterhalt auf dem Spiel steht, aber es handelt sich hier um eine Leistungs-/Unterhaltungsbranche. Das erhöht zwar die Wahrscheinlichkeit von Spielmanipulationen, kann aber auch die Auswirkungen auf die Wettenden verringern. Ich habe mich bei der Arbeit nie unwohl gefühlt, außer wegen meiner Kollegen.

Wenn du heute wettest: Platzierst du Live-Wetten oder vermeidest du sie?

Das hängt von der Sportart und dem Umfang der Wette ab, die ich mir anschaue. Ich mache in der Regel beides, aber Live-Wetten sind in der Regel profitabler.

Bisherige Maßnahmen zum Selbstschutz

Um das Risiko von Spielsucht im Zusammenhang mit Live-Wetten zu verringern, wurden bereits zahlreiche Präventionsmaßnahmen eingeführt. Wir haben eine Übersicht erstellt:

  • Einsatzlimits: Wettende haben die Möglichkeit, feste Einsatzlimits zu setzen. Dadurch können sie verhindern, übermäßig viel Geld zu setzen. Solche Limits können für einen bestimmten Zeitraum oder für einzelne Wetten festgelegt werden.
  • Reality Checks: Dabei handelt es sich um Erinnerungen, die Spieler über die Dauer ihrer Wettaktivitäten informieren. Nach einer bestimmten Zeitspanne regen die Reality Checks zu einer Pause an. Wettende werden außerdem darüber informiert, wie viel Geld sie bereits gesetzt haben.
  • Pausenfunktionen: Wettende können sich zum Einlegen von Pausen verpflichten oder ihr Konto sogar temporär sperren lassen. Diese Funktionen sollen dabei helfen, eine Auszeit vom Wetten einzulegen und die Kontrolle über ihr Wettverhalten zurückzuerlangen.
  • Selbstsperre: Eine weitere effektive Maßnahme zur Vorbeugung von problematischem Glücksspiel sind Selbstsperren. Diese verhindern für einen festgelegten Zeitraum effektiv den Zugang zu Wetten. In Deutschland gibt es dafür das Spielersperrsystem OASIS.

Ein enorm wichtiger Punkt, der bisher möglicherweise zu wenig Beachtung findet, könnte die Aufklärung sein. Dr. Roß hat es in ihrem Interview bereits angesprochen: Vielen Wettenden ist die Gefahr von Live-Wetten gar nicht bewusst. Eine bessere Aufklärung in Schulen und den Medien könnte dazu beitragen, das hohe Suchtpotenzial von Live-Wetten bekannter zu machen.

Fazit: Verantwortung liegt bei Spielern & Anbietern

Unsere Recherchen haben eindeutig belegt, dass Live-Wetten mit einem hohen Suchtpotenzial verbunden sind. Sowohl die schnelle Geschwindigkeit, als auch die dauerhafte Verfügbarkeit und die sofortige Belohnung machen Live-Wetten gefährlich.

Die bisherigen Maßnahmen scheinen nicht ausreichend zu sein. Sowohl Glücksspielforscher Dr. Hayer als auch Oberärztin Dr. Roß haben uns auf Grundlage ihrer Praxiserfahrung mitgeteilt, dass strengere Regularien dringend notwendig seien.

Es scheint, als läge die Verantwortung nicht nur bei den Anbietern und den Behörden, sondern auch bei den Spielern. Sie haben die Möglichkeit, sich selbst Limits zu setzen und Pausen einzulegen. Doch was geschieht, wenn sie die notwendige Eigenverantwortung nicht mitbringen?

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